Machbarkeitswahn ruiniert die Schulen
Lehrermangel, verfehlte Inklusion, wuchernde Bürokratie, immer mehr sprachlose Kinder an Grundschulen und eine Verwaltung, die über die Grenze des Zumutbaren hinausgeht: Stichworte zu einer Bildungskrise.
In Neumünster sollen Sprachschüler, vorwiegend aus Rumänien und Bulgarien stammend, wie das .Flensburger Tagblatt" berichtet, mit Tischen geworfen, Mitschüler die Treppe heruntergestoßen und Lehrer bedroht und beklaut haben, Ihr Interesse am Deutschlernen sei gering, hieß es, dafür musste fast täglich die Polizei gerufen werden. Eine außergewöhnliche Geschichte? Vielleicht, obwohl das niemand genau weiß, denn Vorfälle wie diese werden möglichst intern geregelt, ohne allzu viel Öffentlichkeit. Auch darum wurden die unhaltbaren Zustände in Neumünster so lange von den zuständigen Behörden geleugnet, bis es nicht mehr ging.
Und dann? Wurde über einen runden Tisch nachgesonnen und die Rüpelklasse auf andere Schulen verteilt. Auf Schulen, die allerdings „aufgrund ihrer Zusammensetzung auch Schwierigkeiten haben“, wie ein Schulrat einräumte. Der Kenner ahnt, was das bedeutet, die breite Öffentlichkeit scheint wieder einmal beruhigt. Doch jetzt wird über diese „Schwierigkeiten“ immer mehr bekannt, ist öfter von überlasteten „Brennpunktschulen“ und kaum beherrschbarer „Schuldistanz“ (also Schwänzen) die Rede und von sehr vielen Grundschulen, die in unserer neuen deutschen Wirklichkeit offenbar Mühe haben, ihren Bildungsauftrag, alle Schüler gleichermaßen gut zu unterrichten und zu fördern, noch zu erfüllen. „Ich werde keinem Kind mehr gerecht", fasste eine Lehrerin kürzlich ihre Situation zusammen (F.A.S. vom 12, Februar). Hätte sie gewusst, wie der Unterricht heutzutage aussehe, schreibt sie, dann hätte sie sich einen anderen Beruf gewählt.
Wir sind verzweifelt, überfordert, am Limit - so beschreiben Lehrer immer häufiger ihre Situation. Erstaunlich konkret und unmissverständlich schicken sie diese Botschaften an ihre Vorgesetzten, an Bürgermeister und Minister. Es fällt auf, dass solche je nach Schärfe lind Deutlichkeit als "Brandbriefe" oder konziliant als „Überlastungsanzeige“ formulierten Hilferufe zunehmen, je öfter die Zeitungen darüber berichten - in Hessen, NRW, Baden-Württemberg, Niedersachsen und sogar Bayern - und dass sie trotzdem routiniert in sauerstoffarmer Behördensprache abgeschmettert oder nichtssagend beantwortet werden. „Land unter" auf der einen Seite; manifeste Wahrnehmungsschwäche auf der anderen.
Die Kultusministerkonferenz hat sich schon vor Monaten mit dem Problem beschäftigt. Sie lobte die „Akteurinnen und Akteure“ für ihre Leistungen und stellte lediglich am Rande fest, dass Masseneinwanderung halt zu „mehr Heterogenität im Unterricht“ führe. Das klingt zynisch, denn das Unvermögen, Heterogenität zu meistern, gehört seit langem zu den gern kritisierten Mängeln des deutschen Schulwesens. Aber die Einschätzung der Kultusminister offenbart nur eine allgegenwärtige Hilflosigkeit, auf die viele Behörden mit einer speziellen Kommunikationsstrategie reagieren: keine Öffentlichkeit Wer sich dieser informellen Disziplinierung widersetzt, kann sich Ärger ein- handeln. Das haben Schulleiter erlebt, die ihren anstrengenden Posten plötzlich los waren. Das wissen Lehrer und reden darum lieber mit Journalisten, ohne ihren Namen und den ihrer Schule preiszugeben, "im vertraulichen Gespräch". Zum Glück beginnt sich dann gerade etwas zu ändern. Vielleicht das Positivste an einer Schulmisere, die sich inzwischen so zugespitzt hat, dass alle Appelle, sie unter der Decke zu halten, nicht mehr fruchten.
Die Schreiben der Lehrer und Schulleiter ähneln sich, egal, ob sie aus Wiesbaden, Stuttgart, Neumünster oder Frankfurt kommen. Beklagt werden überbordende Sprachnöte bei immer mehr Schülern, das brachial durchgesetzte Inklusionsprogramm mit mangelhafter professioneller Begleitung und die wachsende Zahl von Flüchtlingskindern, die mit geringer oder ganz ohne Schulbildung möglichst umgehend in den Unterricht zu integrieren sind. Die Flüchtlingskrise scheint hier als Konfliktbeschleuniger zu wirken, denn die angesprochenen Probleme sind seit vielen Jahren bekannt. Kinder, die ohne oder fast ohne Deutschkenntnisse in die Schule kommen und dazu noch alle möglichen anderen Defizite der Schulalltagsbewältigung mitbringen, sind keine neue Erscheinung. In Hessen gibt es dafür immerhin Vorklassen, die Berlin, trotz besonders vieler Kinder mit diesen Problemen, vor kurzem abgeschafft hat.
Der enorme und selbstverschuldete Lehrermangel in ganz Deutschland verschärft die Lage der Schulen noch einmal. Man behilft sich zunehmend mit sogenannten Quereinsteigern, also Lehrern ohne pädagogische Ausbildung. Ihre rasche Weiterbildung wird nun auch noch den Lehrern aufgebürdet, die ohnehin bereits am Limit arbeiten. Man will, so heißt es, viel Geld in die Hand zu nehmen, um mehr Lehrer an den Universitäten auszubilden. Zu spät kommt diese Einsicht, denn es dauert sieben Jahre oder länger, bis solche Pädagogen zur Verfügung stehen. Bis dahin müssen die vorhandenen.je nach Ortslage dafür sorgen, dass Kinder, die der Unterrichtssprache kaum mächtig sind, gleichzeitig Deutsch lernen und den Stoff irgendwie bewältigen. Nicht selten sind das achtzig Prozent einer Klasse.
Dazu kommen oft noch drei oder mehr sogenannte Inklusionskinder, die eigentlich ständig einen Sonderpädagogen bräuchten. Doch die hat man zumeist zu Beratern oder Betreuern degradiert, viele von ihnen sind mehr auf der Straße unterwegs, um zur nächsten Schule zu kommen, als das zu tun, wozu sie ausgebildet wurden. Die Klassenlehrer stöhnen unter einem wachsenden Berg bürokratischer Pflichten. unter Berichten und Dokumentationen, die sie verfassen müssen, unter immer neuen Lehrplanfinessen, die kaum umzusetzen und zudem pädagogisch fragwürdig sind. So kommt es zu der Notlage, welche die erwähnte Lehrerin zutreffend beschrieb.
Wie sich das auf Kinder mit "besonderem Förderbedarf auswirkt, weiß niemand. Deshalb müssen an Stelle der unzähligen, im Wochenrhythmus erscheinenden „Studien“, die vor allem Politikern bestätigen, was sie immer schon hören wollten, die Erfolge und Misserfolge der Inklusion ehrlich evaluiert werden. Es ist allerhöchste Zeit, dieses ehrgeizige Projekt von allen ideologischen Scheuklappen und Missverständnissen zu befreien. Das Nebeneinander von unausgereiften Schulreformen, Lehrermangel. Migrantenkinderbeschulung und dem Großversuch des gemeinsamen Lernens behinderter und nichtbehinderter Kinder ohne aus- reichende professionelle Begleitung - vorn prekären Bauzustand Zehntausender Schulen ganz zu schweigen - hat eine Situation geschaffen, die als permanente Überforderung von Lehrern und Schülern nur unzureichend beschrieben ist. Die Privatschulen profitieren davon. Aber viele Kinder werden für diesen Reformwahn einen hohen Preis bezahlen, weil eben nicht alles machbar ist, was in Amtsstuben als zukunftsweisend betrachtet und beschlossen wird.
Vor Jahren, als sich herumsprach, dass es mit der Vielfalt, der kulturellen, sprachlichen wie der sozialen , nicht ganz so einfach ist, wie es multikulturelle Schwärmereien suggerieren wollten, setzte in vielen deutschen Städten eine beispiellose Segregation ein. Wer konnte, packte die Koffer und die Kinder ein und zog aus Problemvierteln weg. Ein Ausweg, der vielen Eltern heute angesichts großer Wohnungsnot und unbezahlbarer Mieten häufig nicht mehr freisteht.
So entstanden Schulen, in denen nur noch eine Minderheit Deutsch als Muttersprache spricht. Vieles wurde versucht, um dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Lehrer, die an sogenannten Brennpunktschulen unterrichten, sind oft hochengagiert, sie haben Methoden entwickelt, um Sprachnöte und soziale Nachteile auszugleichen. An der schieren Dimension heutiger Probleme aber scheitern viele. Unter Pädagogen wachst das Gefühl, nicht mehr zu schaffen, wofür sie angetreten sind. Mehr Geld, mehr Lehrer, mehr Sonderpädagogen, mehr Vermittler von Deutsch als Zweitsprache, kleinere Klassen, bessere Verteilung von Risikoschülern: das sind lauter gute Wünsche, die sich schwer erfüllen lassen. Vielleicht sollte man damit beginnen, die Lage in der die deutschen Schulen stecken, realistisch zu beschreiben. Mehr Wirklichkeitssinn wäre ein guter Anfang.
REGINA MÖNCH
Aus der FAZ vom 16.03.2017
http://plus.faz.net/evr-editions/2017-03-16/43602/330180.html